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Mo, 07.10.2024 | 09:05-09:30 | Ö1

Radiokolleg

Mit dem Mund, den Lippen und Zähnen, dem Saugen, Schmecken und Verschlingen beginnt die Erschließung der Welt. Essen, Lachen, Weinen, Küssen: Der Mund ist eine äußerst reizvolle Körperzone. Doch nicht nur die sinnlichen Erkundungen, sondern auch Ästhetik und Psychodynamik dieses so intimen Raumes machen ihren Reiz aus. Die Kunst- und Kulturgeschichte ist dem Oralen auf der Spur, dem Uranfang allen Begehrens: Hunger, Hass und Liebe.Er wird gehaucht, geschmatzt oder auch nur ganz leise angedeutet, der Kuss. Der sprachlose Kuss-Mund, der jedes Wort überflüssig macht, ist das Symbol der Verführung, aber auch das Organ der Lust und somit Transitzone für erotische Fantasien. Es sind vor allem die roten, weiblichen Lippen, die Wünsche und Projektionen wecken. Der Kuss-Mund, Pendant zum weiblichen Geschlecht, der Vagina, vereint Kult und Kultur, Himmel und Hölle, Macht und Ohnmacht. Das zeigen die vielen Kuss-Geschichten und Bilder von der Minne über die Femme fatale bis zum Vampirismus. Was ist das also für ein beiläufiger oder auch wichtiger, überaus reizvoller, und oft so einzigartiger Moment? Dann, wenn wir küssen? Und vor allem: warum küssen wir? Die Kulturwissenschaften sagen, dass wir mit den tierischen Resten unserer kannibalischen Vergangenheit leben. Die Tiere haben es uns mit dem Atzkuss, der Mund-zu-Mundfütterung, schließlich vorgemacht. Aber wir küssen auch, weil wir den Drang haben, "Löcher zu stopfen", wie Jean Paul Sartre schreibt oder um die Vor-Lust zu genießen, wie Sigmund Freud meint. Der Kuss, so erklärt der Literatur- und Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme, erweist sich als komplexes Zeichensystem. Seine Bedeutung von Handkuss, Bruderkuss bis zum Intimkuss ist vielfältig. Er spricht zu uns verschlüsselt, manchmal überaus offen und ergreifend direkt. Die Sprache der Küsse, diese Vielgestaltigkeit der weltweiten Lippenbekenntnisse bleibt dabei immer auch geheimnisvoll.

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